Kurzgeschichten

Das Land der roten Rosen – Teil IV: Blackout

Zuletzt aktualisiert am 16. Oktober 2012 von DarkISI

Ein leichter Ruck holte Schöffen aus einem wenig erholsamen Schlaf. Die Notbeleuchtung spendete genügend Helligkeit um ihn die Uhrzeit ablesen zu lassen. Es waren doch mehr als drei Stunden gewesen. Kopfschmerzen hatten ihn dazu getrieben, zwei Tabletten zu nehmen und diese mit Wasser, das er noch immer durch einen Strohhalm saugen musste, herunterzuspülen und sich für eine Weile auf sein Bett zu schnallen. Angesichts der Zeit musste er dabei sogar den Sprung verschlafen haben. Den letzten Sprung.
Ihm wurde flau im Magen. Er spürte Bewegung, doch seine Augen teilten ihm mit, dass es alles um ihn herum so blieb, wie es war. Mit geschlossenen Augen begann Schöffen tief durchzuatmen um einem Schwindelgefühl entgegenzuwirken. Doch es wurde nicht besser. Das Gefühl, dass sich alles um ihn herum drehte wurde nur schlimmer. Erst mit abnehmender Schlaftrunkenheit realisierte er, dass es kein Schwindel war sondern das, was wirklich geschah.
Die Kap Arkona hatte von dem Sprungschiff abgedockt und rotierte nun in die richtige Lage für den Anflug auf ihren Zielplaneten. In wenigen Tagen würde er dieses Blechei verlassen können. Und auch die Zeit bis dahin würde weitaus angenehmer werden. Das Landungsschiff würde die Hälfte der Wegstrecke beschleunigen, sich dann noch einmal in die entgegengesetzte Richtung drehen und den Rest der Strecke abbremsen. Und das bedeutete für ihn und die übrigen an Bord endlich wieder das Gefühl von Schwerkraft zu erleben.
Schöffen löste die Gurte und machte sich ein letztes Mal für diese Reise daran, sich in Schwerelosigkeit umzuziehen. Die Zentrifugenwaschmaschinen an Bord waren nicht schonend mit seiner Garderobe umgegangen und so fühlte sich das weiße Hemd unangenehm an als es seine Haut berührte. Dennoch tröstete er sich mit den Gedanken an all die Annehmlichkeiten, die nun wieder zur Verfügung stehen würden. Essen, das man sich nicht aus Tuben in den Mund pressen musste. Teller und richtiges Besteck. Echtes Brot und nicht mehr irgendein widerliches Ersatzgebäck, das so konzipiert war, dass es auch beim Schneiden oder Abbeißen nicht krümelte. Gabeln und Löffel hatte er auf dieser Reise nur bei den seltenen Gelegenheiten in der Hand gehabt zu denen ein Gericht serviert wurde, das auch in der Schwerelosigkeit an seinem Untergrund haftete ohne Tropfen durch den Raum zu verteilen.
Schöffen sah es als eine Prüfung seines Durchhaltevermögens und seiner Selbstdisziplin.
Es klopfte an der Tür. Nicht zu früh. Er hatte sich gerade seinen Gürtel festgezogen. Saß dieser nicht ein Loch enger als vor seinem Aufbruch?
“Herr Schöffen?“ Deutingers Stimme. Schöffen wartete noch einige Sekunden ehe er antwortete.
“Ja?“
“Der Kapitän bittet Sie auf die Brücke“ rief Deutinger durch die Tür, die Schöffen nun öffnete. Mit einem Nicken gab er seinem Leibwächter zu verstehen, dass dieser ihn führen sollte. Wenigstens hatte das Schiff aufgehört, sich zu drehen.
Die Brücke war, wie er sich erinnerte, nur ein Deck über seiner Kabine. Zumindest würde es bald wieder diese Richtungsbezeichnung verdienen. Doch noch hieß es für ihn, sich durch die Gänge der Kap Arkona zu hangeln. Sie erreichten die Tür zur Brücke und Deutinger ließ ihm wieder den Vortritt. Das vertraute Zischen der Türmechanik wurde von einem kratzenden Geräusch begleitet. Noch unangenehmer empfand Schöffen jedoch den Anblick Pschorns und, wie es schien, der Hälfte ihrer Räuberbande von Söldnern. Mit Rasur und Körperhygiene nahm es ohnehin keiner von ihnen sonderlich genau und ihre grünen Unterhemden, die sie in der aufgeheizten Luft des Schiffes zur Schau trugen, strotzten vor Salz- und Schweißflecken. Schöffen versuchte sich am glaubhaftesten Lächeln, das er auf sein Gesicht zu bringen vermochte. Pschorns gehobener Augenbraue nach zu urteilen misslang es ihm gründlich.
“Guten Tag, Herr Schöffen“, begrüßte ihn der Kapitän, der als Einziger einen Freiraum von mehr als Armeslänge um sich herum hatte. Auch stach der Schiffseigentümer durch seinen gepflegten und im Halbdunkel der Brücke beinahe unnatürlich hell leuchtenden Bart hervor.
“Guten Tag Ihnen allen!“ sagte Schöffen, Pschorn und einige andere nickten ihm nur erwidernd zu.  Schöffen ließ kurz den Blick schweifen. Der Hauptbildschirm zeigte nichts als einen Sternenhimmel und die kryptischen Anzeigen der Instrumente konnte er ohnehin nicht entziffern. Hin und wieder blickte eines der Crewmitglieder zu ihm oder einem anderen der Gäste. Und immer mehr Augen richteten sich ausschließlich auf ihn.
“Herr Schöffen“, richtete der Kapitän wieder das Wort an ihn.
“wir haben kein Signal der Station empfangen. Auch der von Ihnen angekündigte Leitstrahl blieb bislang aus.“ Das waren schlechte Nachrichten, aber sie kamen nicht überraschend.
“Setzen Sie Kurs auf den zweiten Planeten. Ich werde Ihnen die genauen Koordinaten noch bringen“, antwortete Schöffen.
“Was uns erwartet uns dort unten?“ fragte Pschorn als sich Schöffen bereits wieder zum Gehen wenden wollte. Sie hatte sich zwischen ihn und die Tür begeben. Zwei ihrer Leute schwebten unweit von ihr und taten unbeteiligt, befanden sich jedoch ebenfalls in einer Position von der aus sie ihm schnell den Weg versperren konnten. Die Söldnerin mochte etwas von ihrem Handwerk verstehen, das Talent zur Diplomatie und der rechte Verstand um zu begreifen, dass er Informationen nur denjenigen weitergab, die sie einerseits benötigten und andererseits auch damit umzugehen wussten, fehlte ihr. So war sie nun auf Konfrontation aus, aber sicherlich nicht so naiv, ihn wirklich mit Gewalt anzugehen.
“Frau Pschorn“, begann Schöffen, als er spürte wie sich das Gefühl freien Falls der Schwerelosigkeit in Gewissheit umwandelte und er sich langsam auf den Boden der Brücke zubewegte. Der Kapitän bellte mehrere knappe Befehle, von denen Schöffen jedoch nichts verstand. Als seine Füße den Stahl berührten, bemerkte er dessen Vibrieren. Das kannte er so nicht. Hastig drehte er sich um.
“Ich fahr’ sie runter!“ rief ein Besatzungsmitglied. Im steten Wechsel schien irgendetwas anderes in Schwingung zu geraten und ein Rasseln von sich zu geben. Die Vibration ebbte langsam ab und mit ihr auch das kurze Gefühl einer sanften Schwerkraft. Schöffens Füße verloren wieder den Bodenkontakt.
“Was war das?“ fragte einer der Söldner. Der Kapitän verzog die Miene.
“Wir kümmern uns darum. Alle raus!“ befahl er. Pschorns Gestik bestätigte die Order für ihre Leute, die murrend die Brücke verließen. Schöffen rang dagegen mit sich. Wenn es um das Schiff ging, hatte der Kapitän das letzte Wort, doch war Schöffen von dem Vorfall gerade zutiefst beunruhigt und wollte wissen, was genau gerade passiert war.
 
– – –
 
Auch acht Stunden nach dem fehlgeschlagenen Start der Haupttriebwerke sah sich Schöffen noch dazu gezwungen, Kaffee durch einen Schlauch zu trinken. Er hatte sich dazu entschlossen, sein eigentlich erst während des Endanflug angesetztes Meeting schon jetzt abzuhalten. Das würde auch Pschorns Gemüt beruhigen, da sie sich so als Gewinnerin sehen würde nachdem sie auf der Brücke auf ihre eigene Art darum gebeten hatte. Für Schöffen war es jedoch auch gerade wegen der laufenden Reparatur ein guter Zeitpunkt. Die gesamte Schiffscrew war im Einsatz um das Triebwerk so weit auseinanderzunehmen wie es ohne eine richtige Werft möglich war, auf der Suche nach dem Fehler und jeder von Pschorns Leuten, der genügend technische Kenntnisse hatte um in Schwerelosigkeit Deckpaneele loszuschrauben sowie auch einige der zivilen Techniker unterstützten sie dabei. Alle übrigen waren vom Kapitän in ihre Kabinen geschickt worden um nicht im Weg zu stehen oder zu schweben.
Nun saß Schöffen zusammen mit Pschorn, seinem Leibwächter Leuterbach sowie Doktor Mark Andrewski, dem Leiter des zivilen Projektteams auf einen Stuhl geschnallt in der Schiffsmesse. Den Kaffee heftete er mit dem Klettstreifen des Trinkschlauchs auf dem Tisch fest nachdem er die Verschlusskappe wieder aufgedrückt hatte. Er vermisste den Klang einer Porzellantasse die man auf einen Unterteller setzte. Solche Kleinigkeiten.
“Bevor ich beginne muss ich noch einmal darauf hinweisen, dass jeder von Ihnen vor Beginn dieser Reise eine Verschwiegenheitserklärung unterschrieben hat und keine Informationen hierüber an die Öffentlichkeit gelangen dürfen. Für Ihre Diskretion wird jeder von Ihnen gut entlohnt. Es geht dabei um Firmengeheimnisse, die viel Geld wert sind. Diese Geheimhaltung war überhaupt der Grund dafür, weswegen unsere Forschungsstation so weit außerhalb der Inneren Sphäre errichtet wurde. Die Investitionskosten waren für unser Unternehmen immens. Eine Weitergabe von Firmeninterna, über die Sie im Laufe dieser Operation Kenntnis erlangen, würde all diesen Einsatz zunichte machen.“ Schöffen blickte den Anwesenden direkt in die Augen. Leuterbach und Andrewski gehörten zum Konzern. Sie würden direkt davon profitieren, wenn die Forschung hier zum Erfolg führen würde. Das galt besonders für Andrewski, denn je nachdem ob Dr. Millen noch lebte oder nicht, würde Andrewski dessen Nachfolge übernehmen und somit die Station künftig leiten. Pschorn dagegen war als Söldnerin von Beruf aus käuflich. Natürlich konnte er ihr keine wirklich vertraulichen Informationen mitteilen, aber das war auch nicht notwendig.
“Unsere Forschungsstation befindet sich nahe der Westküste dieses Kontinents.“ Eine holographische Kartenprojektion entfaltete sich auf Knopfdruck an der Wand. Außer Höhenlinien und dem Gradnetz war nur ein einzelner leuchtender Punkt zu sehen.
“Wie sind die Umweltbedingungen auf diesem Planeten?“ fragte Pschorn dazwischen. Schöffen war über die Frage verwundert und überlegte, wie er antworten sollte, als ihm Andrewski ihm zuvorkam.
“Machen Sie sich deswegen keine Sorgen, Frau Pschorn. Wir haben sorgfältig ausgewählt. Die Schwerkraft ist etwas niedriger als Standard, der Luftdruck ebenfalls. Die Atmosphäre ist atembar und dort, wo wir hingehen, ist es weder zu warm noch zu kalt. Durch die Nähe zum Meer ist die Gegend sogar ganzjährig frostfrei.“
“Haben Sie auch genaue Zahlen oder nur den Wetterbericht?“
“Herr Leuterbach wird Sie noch mit allem Nötigen versorgen“, versicherte Schöffen.
“Wie viele Menschen leben hier?“ fragte die Söldnerin, auch wenn sie dabei weiterhin nur auf die Karte blickte und dabei Dinge zu sehen schien, die Schöffen nicht wahrnahm.
“Wir hatten eine Crew von 64…“
“Nein, ich meine auf dem Planeten insgesamt“, unterbrach ihn Pschorn.
“Der Planet ist abgesehen von unserer Station unbewohnt“, erklärte Schöffen und betätigte eine Taste um die nächste Projektion aufzurufen. Der Blick und die Fragen der Söldnerin gefielen ihm nicht.
“Und in der Station?“ Das Hologramm zeigte ihnen den Grundriss der Station als Konstruktionsskizze.
“64 Techniker, Maschinisten und Wissenschaftler, 15 Sicherheitsleute und etwa 300 weitere Arbeitskräfte. Hier im linken Ausschnitt sind die Wohngebäude.“ Er wies auf acht Gebäude identischer Größe.
“Es wurden bislang jedoch nur vier oder vielleicht inzwischen fünf davon fertiggestellt. Das gilt in ähnlicherweise auch für die übrigen Anlagen. Die Station befand sich noch im Aufbau als der Kontakt abbrach.“
“Wie haben Sie mit einer so abgelegenen Station überhaupt Kontakt halten können? Gibt es dort eine HPG-Station?“ Allmählich wurde ihm die Frau lästig. Sie stellte zu viele Fragen. Oder sie wollte Ehrgeiz vortäuschen und begab sich dabei versehentlich auf dünnes Eis.
“Nein. Der Kontakt lief per Pony Express ab. Eine Bodenstation funkte Nachrichten an ein Sprungschiff am Sprungpunkt und dieses sprang in regelmäßigen Abständen zum nächsten Planeten mit einem HPG.“
“Ziemlich aufwändig“, meinte die Söldnerin und starrte in Schöffens Augen.
Schöffen hielt ihrem Blick stand, zuckte jedoch zusammen, als sie sich plötzlich in vollkommener Finsternis befanden. Die Beleuchtung, der Projektor und jede andere Lichtquelle im Raum waren ausgefallen.
“Was zum…“, stieß Andrewski überrascht aus. Schöffen hörte, wie sich die anderen am Tisch bewegten, das Rascheln ihrer Kleidung, ihr Atmen und das leiser werdende Geräusch des Projektorlüfters. Ein kalter Luftzug streifte sein Gesicht und ließ die Haare in seinem Nacken zu Berge stehen. Etwas glattes und kaltes berührte seine rechte Hand und er zog sie hastig zurück, presste sie sich an den Leib. Er wollte aufstehen, doch er war noch immer angegurtet. Zerrend und zappelnd versuchte er, den Gurt zu lösen. Er konnte die Schnalle nicht finden. Seine Hände fuhren den ganzen Gurt entlang, während sein Kopf hin und her zuckte. Jemand war hinter ihm. Noch immer herrschte absolute Schwärze und er konnte nichts sehen. Dennoch spürte er die Präsenz deutlich. Wieder streifte ihn etwas, diesmal am Ohr. Er duckte sich. Da war die Schnalle! Er riss und zerrte daran. Um ihn herum wurde gemurmelt, doch er verstand die Worte nicht. Wo war sein Leibwächter? Klickend öffnete sich der Verschluss und ließ ihn frei. Er wollte wegrennen und wusste doch nicht, wohin. Unkontrolliert stieß er sich ab und geriet ins Taumeln. Jemand packte ihn und Schöffen schrie vor Angst auf. Im nächsten Moment zuckte ein heftiger Schmerz durch seinen Kopf, unmittelbar gefolgt von einem zweiten Schlag.

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