Kurzgeschichten

Das Land der roten Rosen – Teil X: Blut

Zuletzt aktualisiert am 6. November 2012 von DarkISI

“Was hatten Ihre Leute dort eigentlich gemacht?“ fragte Andrewski, dessen Ton verriet, dass er zwar kein Mitleid mit den Männern hatte, die nicht zuletzt auch zu seinem Schutz hierher verfrachtet worden und nun tot waren, ihm das Ereignis des Vortags aber weitere Angst um das eigene Überleben bereitete. Urban blickte den Wissenschaftler starr an und verwünschte diesen aus tiefstem Herzen.
“Sie haben das Gebiet dort durchforstet, auf der Suche nach Überlebenden oder weiteren Opfern“, antwortete Pschorn erstaunlich ruhig.
“Aber beantworten Sie doch bitte einmal meine Frage, Doktor Andrewski: Woran wurde hier geforscht? Sie sind Genetiker und dieser Doktor Millen sowie Ihr halbes Team ebenfalls, wie ich inzwischen erfahren habe. Ist eines Ihrer… Experimente entkommen?“ Pschorns Stimme hatte nur unwesentlich gezittert, aber Urban befürchtete, dass auch ihre Nerven blank lagen und eine falsche Antwort Andrewskis dazu führen konnte, dass sie diesem mit bloßen Händen die Gedärme herausriss. Der Wissenschaftler schluckte.
“Das…“ begann er mit rauher Stimme.
“Das ist vollkommener Unsinn. Das hier ist eine botanische Forschungsstation. Wir haben neue Rosenarten gezüchtet.“ Auch Schöffen blickte auf Andrewski, wie Urban fand mit der verhohlenen Drohung, nichts falsches zu sagen.
“Rosen?“ fragte Pschorn skeptisch und eine Spur zu laut für eine einfache Gegenfrage.
“Ja, Frau Pschorn. Genetik ist nicht nur eine Technologie die gerade erst nach den Verlusten der Nachfolgekriege wiederentdeckt wird und damit extrem kostbar und kostspielig ist sondern es würde Sie verwundern, wie groß allein im lyranischen Teil des Commonwealth die Nachfrage nach exotischen Blumen ist. Und durch die Vereinigung der beiden Reiche wurde das Potential sogar noch größer. Groß genug um all den finanziellen Aufwand einer Station so weit abseits der Zivilisation zu rechtfertigen“, antwortete ihr Schöffen. Urban zweifelte an der Erklärung.
“Rechtfertigt es auch den Tod hunderter Menschen?“ setzte Pschorn nach und richtete ihren durchdringenden Blick nun auf Schöffen.
“Frau Pschorn, ich habe nie gewollt, dass auch nur ein einziger Mensch hier stirbt.“ Urban dachte sich seinen Teil zu dieser Aussage. Gewollt hatte es der Konzernmensch vielleicht nicht, billigend in Kauf genommen aber sicherlich.
“Nun, Herr Schöffen, an Ihren Händen klebt Blut.“
“Wie viele… Tote sind es inzwischen?“ fragte Andrewski stockend.
“102“, antwortete Urban.
“Also wieder zwei neue Funde oder gab es noch weitere Todesfälle?“ hakte Schöffen nach.
“An einer Stelle hatten wir viele Leichen auf einem Haufen gefunden. Unsere erste Zählung war nach der Zahl der Schädel gegangen, aber als wir die Leichen wegschafften, fanden wir heraus, dass die Köpfe bei zwei Toten derart zerschmettert waren, dass wir sie zuerst garnicht erkannten“, erklärte Urban.
“Es bleibt übrigens dabei, dass nur ein einziger aus der ursprünglichen Besatzung eindeutig durch eine Schusswaffe getötet wurde und das war offenbar Selbstmord. Alle anderen sehen eher danach aus, als seien sie von irgendeinem Tier zerfleischt worden. Das erklärt jedoch nicht das systematische Vorgehen, das wir rekonstruieren konnten“, setzte er fort.
“Können Sie mir das erläutern?“ fragte Schöffen besorgt.
“Es wurde zuerst die Kommunikation ausgeschaltet, dann die Mehrheit der Wachmannschaft und danach anscheinend ein Gebäude nach dem anderen. Nur in den Wohnbaracken der Arbeiter haben wir keine Toten gefunden. Dort waren die Türen aufgebrochen, aber kein solches Massaker wie im Rest der Station veranstaltet worden. Der Zaun um die Baracken der Arbeiter war an manchen Stellen eingerissen, so auch die drei Wachtürme.“ Zu diesen ersparte sich Urban jeglichen Kommentar. Was er gesehen hatte, war allein Grund genug, Schöffen vor ein Gericht zu bringen. Die Wachtürme hatten außerhalb der Einzäunung gestanden, waren also offenbar nicht dazu gedacht gewesen, jemanden vom Eindringen in den Wohnbereich der Arbeiter zu hindern sondern diese am verlassen. An allen drei Türmen hatten sie Brandspuren entdeckt und in allen drei Fällen waren die Stützpfeiler so stark beschädigt worden, dass nun keiner mehr stand. Urban wollte auch nicht andeuten, dass es danach aussah, als wären viele Arbeiter in die Wildnis entkommen. Zumindest für kurze Zeit. Sie hätten es inzwischen herausgefunden, wenn von den Ackerflächen oder aus den Vorräten in der Station größere Mengen Lebensmittel verschwunden wären und die einheimische Vegetation war wohl für Menschen nicht genießbar. Eine Handvoll Überlebender mochte es noch in der Nähe geben, aber Urbans Hoffnung auch nur darauf strebte gegen Null.
“Wie…“ begann Schöffen als es plötzlich dunkel wurde. Mehrfach wurden Waffen gezogen, wie Urban an den Geräuschen vernahm, die nicht nur daher rührten, dass auch er nun seine Pistole in der Hand hielt. Zehn Sekunden später flammte die Notbeleuchtung auf, die den fensterlosen Besprechungsraum in ein dämmriges Zwielicht hüllte. Urban, Pschorn sowie die beiden Leibwächter Schöffens hatten sich an die Wände zurückgezogen und sicherten in Richtung der beiden Türen. Schöffen selbst war hinter der breiten Statur Deutingers verschwunden. Leuterbach machte zwei schnelle Schritte auf Andrewski zu und zog auch diesen zur Seite. Die Funkgeräte der Söldner knackten. Pschorn holte ihres hervor.
“An alle, Marder eins, Meldung!“
“Marder eins, Wolf eins, Stromausfall, Ursache unklar, Wolf bereit an Punkt“, kam die erste Meldung von Bernd Drechsler.
“Nik, schnapp Dir Deine Jungs, wir ziehen uns zurück!“ flüsterte Pschorn Urban zu, dann wandte sie sich an Schöffen, Andrewski und die Leibwächter.
“Aber…“, begann Schöffen und verstummte als der nächste Funkspruch ertönte.
“Marder eins, Bär zwo, Bär erwacht an Punkt“
“Wir machen uns schnellstmöglich aus dem Staub“, machte Pschorn ihrem Auftraggeber klar und erhielt Unterstützung von den Leibwächtern.
“Marder eins, Marder klar an Punkt!“ Damit hatte sich jeder Trupp gemeldet und alle waren an den Positionen, an denen sie nach Plan sein sollten.
“An alle, Marder eins, Delta Oscar Romeo!“ Der Evakuierungsplan, der die Mitnahme der Zivilisten vorerst mit einschloss. Urban hatte sich inzwischen leise bis zur Vordertür des Raumes begeben und gab Pschorn ein Zeichen. In Gedanken zählte er bis drei und sie stürmten in entgegengesetzten Richtungen aus dem Raum heraus. Sie führte die Gruppe mit den Leibwächtern, Schöffen und Andrewski während Urban alleine blieb.
In geduckter Haltung ging er weiter den Flur entlang und hielt seinen Kopf unterhalb der Fenster. Auch so konnte er feststellen, dass auch die Laternen im Außenbereich und das Licht der benachbarten Gebäude ausgefallen waren. Er hörte die Schritte der anderen, die das hintere Treppenhaus benutzen würden. Drei Meter vor der Doppeltür zum größeren Haupttreppenhaus hielt er an und lauschte noch einmal genauer. Auch von draußen vernahm er nun gedämpfte Geräusche. Die Stimmen der Zivilisten, die von Wolf gedeckt die Straße entlangliefen, die ersten Motorgeräusche. Dann ging ein dumpfer Schlag durch das Gemäuer, den er nicht zuordnen konnte. Rasch betrat er das Treppenhaus und machte sich auf den Weg nach unten. Im Erdgeschoss angekommen lauschte er erneut. Die Stimmen wurden lauter, Fahrzeuge entfernten sich. Dann ertönte ein Scheppern als wäre jemand gegen eine Wand gefahren. Also ging es los.
“Bär, Bär eins, stoßt zu Wolf und unterstützt!“, befahl Urban seinem Trupp über Funk und schaltete sein Funkgerät aus ehe eine Bestätigung kommen konnte. Er war ohne Rückendeckung unterwegs und wollte sich nicht durch einen Funkspruch im falschen Augenblick verraten. Es erinnerte ihn wieder an seine Zeit auf Galatea. Als hätte er damals nur Landungsschiffe be- und entladen. Mit so einem unterbezahlten Job konnte man sich in so einem teuren Nest wie dem Söldnerstern kaum über Wasser halten. So hatte er das eine oder andere krumme Ding gedreht und gerne mal die Hand offen gehalten, wenn jemand keine Fragen hören wollte. Jedenfalls war das sein Leben gewesen bis Pschorn ihn aufgelesen hatte. Das Miststück.
Schreie ertönten, dann ratterte ein Sturmgewehr. Er hatte die Außentür erreicht. Millimeter für Millimeter bewegte er seinen Kopf an den verglasten Teil heran um nicht durch eine schnelle Bewegung aufzufallen. Gerade weit genug um aus dem Augenwinkel den unmittelbaren Bereich vor der Tür erkennen zu können. Hier war alles ruhig, jedoch sah er weiter die Straße herunter noch Licht in einem Gebäude. Er benötigte einige Sekunden um sich zu erinnern, dass dort das Labor und auch die medizinischen Einrichtungen untergebracht waren. Also gab es dort wohl auch ein Notstromaggregat. Dieses Licht würde viele Verzweifelte und wohl auch die Angreifer wie Motten anziehen und er hatte kein Interesse daran, sein Leben unnötig für idiotische Zivilisten aufs Spiel zu setzen.
Wieder so langsam wie möglich schob er die Tür auf bis der Spalt breit genug für ihn war. Mit einem letzten prüfenden Blick sah er, dass die Luft für ihn rein war. Die Angreifer konzentrierten sich dem inzwischen anhaltenden Waffenfeuer nach zu urteilen auf den Tross der Zivilisten. Urban rannte los, bis zur Häuserecke und sprang dann zur Seite in den etwa einen Meter breiten Spalt zum nächsten Gebäude. Und prallte gegen ein Hindernis. Einen Fluch unterdrückend rappelte sich auf. Gegen was auch immer er gerannt war, es war mit ihm zu Boden gegangen.
Ruckartig richtete er den Kopf auf und sah in den Lauf seiner eigenen Pistole. Bassey hielt die Waffe mit beiden prankenartigen Händen sicher  gepackt. Im beinahe vollkommenen Dunkel war der schwarze Hüne kaum zu erkennen, doch das Weiß seiner Augen leuchtete fast unnatürlich hell. Ohne zu blinzeln oder den Blick einen Sekundenbruchteil von Urban abzuwenden schüttelte der Pirat den Kopf. Urbans Puls raste und trotz des Moments der Panik verstand er. Dieser Bastard würde nicht zögern, abzudrücken, wenn dieser ihn wirklich hätte töten wollen.
Wieder ertönten Todesschreie und auch gebellte Befehle der übrigen Söldner, deren Wortlaut Urban jedoch nicht verstehen konnte.
“Und jetzt?“ fragte er flüsternd.
“Landungsschiff, Du zuerst.“ Urban nickte und stand langsam auf. Hier und jetzt würde er Bassey nicht überwinden können, aber eine Gelegenheit würde sich vielleicht noch ergeben. Urban spähte noch einmal in die Straße hinaus und sah dabei etwas seltsames. Drei Gestalten rannten etwa hundert Meter von ihm entfernt auf das Laborgebäude zu.
“Nicht da lang“ flüsterte Bassey. Urban zog sich wieder in den Schatten zurück und folgte dem Wink des Piraten. So kamen sie an die Parallelstraße und damit auf die Seite, auf der Pschorn mit Schöffen eigentlich hätte herauskommen müssen. Von ihr und auch von Andrewski war nichts zu sehen. Auch sonst war es ruhig und Urban sprintete über die freie Fläche bis in die nächste Deckung auf der anderen Seite. Bassey folgte ihm dichtauf.
“Wie ist Ihr Plan?“ fragte Urban den Piraten.
“Hier in der Straße ist ein Wirtschaftsgebäude. Da rein.“
“Das mit dem Generator?“ Bassey nickte.
“Der Strom ist ausgefallen, wahrscheinlich waren die Angreifer dort zuerst“, wandte Urban ein.
“Ja, aber nicht mehr. Weiter jetzt!“ Urban konnte die Schlussfolgerung begrenzt nachvollziehen. Wenn der Generator oder der Stromverteiler beschädigt worden waren, gab es keinen Grund, Wachen am Wirtschaftsgebäude zu hinterlassen und daher konnte dieses jetzt wirklich unbewacht und unbeobachtet sein. Urban spähte in die Dunkelheit hinaus und rannte dann los. Er konnte kaum etwas sehen. Einzig die noch immer vorhandene Beleuchtung des Laborgebäudes, das zwei Stockwerke mehr als alle anderen besaß und damit nun wie ein Leuchtturm herausragte, diente als Lichtquelle. Zwei Straßen weiter brannte etwas, nein, irgendetwas stieg auf einer Säule aus Feuer und Rauch empor und verschwand dann wieder aus seinem Blickfeld.
Bassey zog ihn grob zur Seite. Wieder standen sie dicht beieinander in einer engen Baulücke zwischen zwei Gebäuden. Die Pistole war weiterhin auf Urban gerichtet.
“Wer greift uns an?“ Basseys Kopf ruckte kurz zur Seite und ein blasser Lichtstrahl traf das Gesicht des Piraten. Urban erkannte dadurch erst, dass sein Gegenüber geradezu in Blut getränkt war. Es konnte unmöglich alles von ihm stammen. Er ahnte, wie sich der Pirat seine momentane Freiheit beschafft hatte.
“Nichts, das wir besiegen könnten“, antwortete Bassey.

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