Kurzgeschichten

Das Land der roten Rosen – Teil I: Projektbesprechung

Zuletzt aktualisiert am 4. Oktober 2012 von DarkISI

Sagittarius. Obwohl das Sternbild mit diesem Namen ein Phänomen des terranischen Nachthimmels war und obwohl manche der Sterne in diesem Sternbild zwischen hier und Terra lagen, nannte man es auch hier den Sagittarius-Sektor. Jene Linie zwischen dem Heimatplaneten der Menschheit und dem Zentrum der Milchstraße und jeweils ein Winkel von 15 Grad zu beiden Seiten. Ein galaktisches Kuchenstück. Ganz Rasalhaag lag in diesem Sektor, doch Schöffens Blick ging weiter, über die Grenzen der Inneren Sphäre hinaus.
“Vor langer Zeit glaubten die Menschen, die Ressourcen ihrer Welt wären schon bald verbraucht. Öl, Eisen, Gold, Uran, Kohle, Trinkwasser, Kupfer, Buntmetalle. Die Liste ließe sich endlos fortsetzen. Man hielt Industriegesellschaften für veraltet und viele Völker versuchten, sich in den Dienstleistungssektor zu flüchten.“ Ein leises Gemurmel wallte durch den abgedunkelten Konferenzraum.
“Verstehen Sie mich nicht falsch. Selbstverständlich ist ein starker Dienstleistungssektor erforderlich. Aber er ist nur stark, wenn er auf einer soliden Industrie fußt und mit dieser vernetzt ist. Dies ist die Philosophie der lyranischen Wirtschaft und das war auch schon vor über einem Jahrtausend so als all unsere Vorfahren noch auf Terra lebten. Es war die Technik, geboren aus der Ehe von Wissenschaft und Industrie, die es den Menschen ermöglichte, das Sonnensystem zu verlassen und nach anderen Welten zu greifen. Und so wurde es klar, dass all die Zweifler, all diejenigen, die von einer Begrenztheit der Ressourcen sprachen, nur kurzsichtige Narren waren.“ Das gefiel den Anwesenden schon besser.
“Nun geht es für uns darum, nur einen kleinen weiteren Schritt zu gehen und über den Tellerrand der Inneren Sphäre zu schauen.“ Die projizierte Karte der Inneren Sphäre zoomte auf den Bereich des farbig hervorgehobenen Sagittarius-Sektor, der mit weniger als fünf Sprüngen von den entlegendsten lyranischen Planeten zu erreichen war. Das war weniger als manch einer der Konferenzteilnehmer hinter sich hatte um hierher zu gelangen.
“Wie Sie alle wissen, ist die Förderung von Bodenschätzen nahezu immer mit großem technischen Aufwand, vor allem schweren und sperrigen Maschinen, verbunden. Jedenfalls, wenn man es wirtschaftlich betreiben will. Und noch mehr ist zu berücksichtigen, dass die Bodenschätze selbst, als naturbedingte Gewichtsverlustmaterialien, idealerweise nicht in ihrer Rohform abtransportiert sondern zugleich vor Ort veredelt werden.“ Schöffen war sich sehr wohl bewusst, dass nur wenige im Raum wirklich etwas von Wirtschaftswissenschaft und dem Führen eines Großkonzerns, von Optimierungsprozessen und Marktbedingungen verstanden. Viele waren Vertreter von Banken, die nennenswerte Aktienanteile besaßen oder, schlimmer noch, Juristen, die sich in die Chefetage intrigiert hatten. Andere waren sogar völlige Nichtskönner, die ihren Sitz in dieser Runde nur geerbt hatten. Nachfahren früherer Konzernchefs waren darunter, bei denen die für diesen Job eigentlich notwendigen Fähigkeiten in irgendeiner Generation verloren gegangen waren. Immerhin wussten die meisten ihren Verstand noch zur Genüge zu gebrauchen um ihre inkompetenten Mäuler nicht allzu oft aufzureißen. Sie hielten sich zurück, orientierten sich an den wenigen verbliebenen Alphamännchen in dieser Runde, stimmten immer mit diesen ab oder enthielten sich, wenn diese Leitbullen sich einmal nicht einig waren. Schöffen wusste, dass er heute noch nicht zu diesen gehörte, aber wenn sein Projekt Erfolg hatte, hätte er es vollends geschafft. Doch dazu musste er zumindest die Mehrheit der wichtigen Leute überzeugen und das ging nur, indem er ihren Beutetrieb weckte.
Er setzte seine Präsentation weiter fort, erläuterte, welch hohen Optimierungsgrad eine autarke Industrie auf einem bislang unbesiedelten Planeten selbst unter Einsatz mehrfacher Redundanzsysteme besaß. Über mehrere Sätze verschachtelt ließ er zumindest für die Sachkundigen verständlich erscheinen, dass man dort draußen vor allem auch keine Münze an Steuern würde zahlen müssen. Außerdem wäre man nicht von Zulieferern abhängig, nicht von Zwischenproduzenten. In der Inneren Sphäre machte die Auslagerung von Teilprozessen in der Produktfertigung manchmal Sinn, wenn die Transaktionskosten anderweitig zu hoch werden würden, aber dort draußen könnte man zu extrem günstigen Konditionen vollintegriert arbeiten. Aber er konnte auch nicht verheimlichen, dass der Aufbau mit ziemlich hohen Anfangsinvestitionen verbunden wäre und schlug daher zunächst die Errichtung eines Explorationswerkes vor, das eine Art Modellversion zukünftiger Großanlagen darstellte. Schöffen zeigte die computergenerierte Animation eines Gebäudes, das fast nur aus Glas zu bestehen schien. Filigran und modern, dabei funktional und ein Traum von einem Arbeitsplatz, mit Blick auf einen grünen Dschungel, strahlend weißen Sand und ein türkisblaues Meer.
Den wichtigen Personen in diesem Gremium hatte er realistischere Pläne zukommen lassen. Weniger Glas, mehr kosteneffizienter Stahlbeton. Weniger Höhe und mehr Fläche. Anders wäre es auch nicht zu bewerkstelligen. Eine solche Anlage musste schnell, kostensparsam und mit möglichst vielen einheimischen Baustoffen gefertigt werden. Sand und Beimengungen für den Beton müsste man nicht aus der Inneren Sphäre mitführen, bei einem Gebäude aus Stahl und Glas hingegen hätte man fast sämtliche Materialien in die Peripherie transportieren müssen. Eine völlige Verschwendung. Und verschwenden wollte Schöffen bei diesem Projekt möglichst nichts.
In der abschließenden Diskussion wurden noch zwei Änderungen an bestimmten Details verabschiedet, doch das hatte er vorausgesehen. Man durfte schließlich nicht zulassen, dass ein einzelner Übereifriger den gesamten Ruhm an einem potentiell so erträglichen Geschäft erhielt. Daher mussten auch andere irgendeinen unwesentlichen Beitrag leisten um ihre Namen noch unter das Projekt setzen zu können. Und mit derselben Selbstverständlichkeit war die Abstimmung, die anonym und unter Schöffens Abwesenheit stattfand, ebenfalls nicht einstimmig. Immer stimmten manche dafür und manche dagegen, sodass im Zweifelsfall jeder behaupten könne, es von Anfang an besser gewusst zu haben. Mit zwölf zu zwei bei nur einer Enthaltung zugunsten Schöffens Projekt war es jedoch sogar eine sehr viel deutlichere Mehrheit als er erwartet hatte.
Er hatte offenbar den Beutetrieb unterschätzt.

Ein Gedanke zu „Das Land der roten Rosen – Teil I: Projektbesprechung

  • Jeden Dienstag und Donnerstag kommt ein neuer Teil.

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