Kurzgeschichten

these boots are made for wading – Teil XI: Der Stern

Zuletzt aktualisiert am 9. Dezember 2011 von DarkISI

Er fühlte sich noch immer wie gerädert, doch war es nicht das körperliche Leiden, das ihn plagte. Er fühlte sich in seinem Innersten, seinen Gefühlen und seinen Grundfesten versehrt. Und er hatte es nicht verdient, dass man ihn noch immer mit solchem Respekt ansprach.
„Cabo!“ Er konnte sich nicht mehr schlafend stellen. Nicht, wenn sie jetzt auch noch anfingen, so laut an seine Tür zu klopfen. Aufstöhnend raffte er sich auf. Er brauchte bis zum nächsten Ruf seiner Männer bis er sich entschieden hatte, ob er die Uniformjacke anziehen sollte oder nicht. Er tat es und schritt auf die Tür zu. Wenigstens hatte ihm sein Rang ein Einzelzimmer verschafft, sodass ihn die meiste Zeit über niemand in seinem desolaten Zustand sehen konnte.
Mürrisch riss er die Tür auf und blickte in ein freudestrahlendes Gesicht, das ihm die Laune nur noch mehr verdarb. Immerhin schien seine negative Stimmung auf seine Männer abzufärben. Oder es war der Schrecken seines ungepflegten Aussehens. Wahrscheinlich roch er auch wie Puerto Verde am Morgen nach dem Weinfest. Vielleicht nicht ganz, denn er konnte sich nicht daran erinnern, seinem Abendessen ein zweites Mal über den Weg gelaufen zu sein. Oder es war wirklich nur sein Gedächtnis, das dieses Ereignis nicht abgespeichert hatte.
„Cabo…“ begann der Marineinfanterist vor ihm und stockte.
„Was gibt es?“ fragte Miguel mürrisch. Nein, das war nicht gut. So würde er schnell jede Authorität verlieren. Doch dann kümmerte es ihn auch schon nicht mehr. Es wäre nur rechtens. Zu ihm sollten sie nicht mehr aufsehen.
„Cabo, die Order kam gerade herein. Alle Mann erhalten eine Woche Heimaturlaub! Wir brauchen aber noch Ihre Unterschrift für die Freistellung.“ Nervös hielt der Marineinfanterist ein Formular in der Hand. Miguel ergriff es und überflog nur die Zeilen. Es stimmte. Bis auf ein paar wenige, die für den Wachdienst eingeteilt waren, erhielten sämtliche Bataillone der Marineinfanterie sieben freie Tage. Gut. Damit würde er auch für eine Weile nicht mehr die mitleidigen Blicke seiner Männer sehen müssen. Mit dem gereichten Stift setzte er seine krakelige Unterschrift in das entsprechende Feld und gab das Formular an den Marineinfanteristen zurück. Marineinfanterist, nicht mehr Rekrut. Es gab keine Rekruten mehr, sie alle hatten ihre Ausbildung erfolgreich abgeschlossen. Alle bis auf einen.
Warum hatte es ausgerechnet Luis’ Landungsboot sein müssen? Nur bei einem einzigen hatten sich die Halteklammern der Laderampe unterwegs gelöst. Siebzehn Mann gingen mit dem Boot unter, doch nur sechzehn hatten es wieder an die Oberfläche geschafft. Luis war in die Tiefe gezogen worden und man hatte nur noch seine Leiche bergen können. Es hieß, seine Schnürsenkel hätten sich an irgendetwas verfangen und darum habe er sich unter Wasser nicht befreien können.
Miguel glaubte diese Geschichte nicht. Ein einfacher Schnürsenkel sollte für den Tod seines besten Freundes verantwortlich sein. Das und eine lockere Halteklammer. Und niemand trug die Schuld daran. Es gab keinen, an dem Miguel seinen Zorn auslassen konnte. So hatten sich Zorn und Wut in Trauer und Verlust gewandelt. Daran war er zerbrochen. Er, der Cabo, der erste Marineinfanterist.
 
Miguel wusste nicht, wohin er hätte gehen sollen. Nichts lockte ihn nach Puerto Verde zurück, die Stadt in der er geboren und aufgewachsen, zur Schule gegangen und eine Ausbildung begonnen, aber wieder abgebrochen hatte. In der er sich für die Marineinfanterie eingeschrieben hatte.
Außerdem wusste er nicht, ob er dort vielleicht sogar einem seiner Männer über den Weg laufen könnte. Da seine Männer ausnahmslos das Ende ihrer Ausbildung genießen und sich von den monatelangen Strapazen erholen wollten, waren sie ebenso ausnahmslos in alle Richtungen davongeeilt sobald man sie loskettete. Also tat er das Einfachste um ihnen auszuweichen und verblieb trotz Freistellung in der Kaserne.
Er lag bis in den Abend hinein auf seiner Matratze. Als die Sonne untergegangen war, hatte er nicht mehr einschlafen können. Schließlich gab er es auf und rollte sich herunter. Seine Füße trugen ihn an dem Waschbecken und dem darüber angebrachten Spiegel vorbei. Miguels sah die große Schwellung auf seiner Brust, die inzwischen alle möglichen Farben angenommen hatte. Doch sein Schmerz ging nicht von dieser Verletzung aus, die ihm ein Farbgeschoss aus einem Maschinengewehr beschert hatte. Der Schmerz kam von darunter, aus seinem Herzen.
Er stützte sich auf das Waschbecken und sah sich selbst im Spiegel an. Unrasiert, zu lange nicht geduscht, eine elende Gestalt. Doch auch das war nur oberflächlich. Lange starrte er sich selbst in die Augen und fragte sich, was dahintersteckte. Wer war er? Was hatte diese Ausbildung aus ihm gemacht? Man hatte ihm Prüfungen auferlegt, wie er inzwischen wusste. Sein Körper, sein Verstand und sein Charakter waren auf die Probe gestellt worden. Nun war er der Cabo.
Schon vor der Ausbildung war er ein ausdauernder Läufer gewesen, nun war er auch wesentlich stärker als zuvor. Marschgepäck zu schleppen und sportliche Übungen stählten jeden Körper, der nicht daran zerbrach. Und sein Körper war nicht zerbrochen. Er sah sich selbst zwar nicht als klug genug um jemals zu studieren oder Offizier werden zu können, aber er wusste sehr wohl, dass er in der Lage war, schnell zu denken und gute Entscheidungen zu treffen. Und er hatte sich und allen anderen bewiesen, dass er dazu in der Lage war, Menschen zu führen, ihnen Befehle zu geben und auch in schwierigen Situationen einen ruhigen Kopf zu bewahren.
Nur am Tod von Luis zerbrach er.
In allen Manövern hatten sie gegen überlegene Kontrahenten vorgehen müssen. Voll ausgebildete Gegner, besser ausgerüstete Gegner und zahlenmäßig überlegene Gegner. Und jedes Mal hatten sie verloren. Und doch hatte er, der Cabo, nie aufgegeben. Nur im letzten Manöver hatte er keine Rolle spielen können, da er sofort nach Herunterklappen der Laderampe seinen Treffer erhielt. Doch auch das hatte er gut verkraftet. Bei der Rückfahrt zur Flotte hatte er den Skipper ihres Landungsbootes deswegen auch rundgemacht. Es war schließlich dessen Fehler gewesen, sie ausgerechnet dort auszusetzen.
Hier hatte er einen Schuldigen und ein Ventil, an dem er sich hatte austoben können. Aber als er auf der Princesa von Luis’ Tod erfahren hatte, war er in ein tiefes Loch gefallen.
War dies eine weitere Prüfung?
Er wusste es nicht. Vielleicht. Natürlich hatte niemand diesen Tod geplant oder aktiv verursacht, aber vielleicht stellte dies dennoch auch eine weitere charakterliche Prüfung für ihn dar. In den vorherigen Manövern hatte er mit ansehen können, wie Kameraden von Farbgeschossen getroffen wurden. Manche wurden auch mehr oder weniger verletzt, aber immer war klar, dass ein Getroffener bald wieder dabei wäre. Nun aber gab es einen nicht mehr rückgängig zu machenden Verlust. Natürlich musste er damit zurechtkommen, wenn er weiterhin in der Marineinfanterie bleiben wollte. Soldaten führten Kriege und in Kriegen kamen etliche Menschen ums Leben. Und Soldaten waren stets jene, die der größten Gefahr ausgesetzt waren. Soldaten wie Luis. Soldaten wie Miguel.
Er musste einen klaren Verstand bekommen. Er schaufelte sich mit den Händen kaltes Wasser ins Gesicht, zog sich an und trat an die frische Luft hinaus.
Es war seltsam, die Kaserne in einer solchen Ruhe zu sehen. Selbst als nächtliche Feuerwache erlebte man nicht diese Stille. In den Baracken hörte man das Schnarchen der Soldaten, im Freien gelegentliche Patroullien oder die Lieferwagen, welche die Kaserne versorgten. Mit fast allen Marineinfanteristen auf Heimaturlaub waren jedoch keine täglichen Lebensmittellieferungen mehr notwendig und auch die Patroullien sah Miguel zumindest in diesem Moment nicht.
Es war sehr schnell dunkel geworden, der Nachthimmel klar wie selten. Tief durchatmend blickte Miguel hinauf und verlor sich in den Tiefen des Alls.
Langsam nur senkte er wieder seinen Blick und sah am Horizont einen hellen Stern aufgehen. In diesem Augenblick musste er sich eingestehen, dass er von Astronomie keine Ahnung hatte und nicht einmal wusste, welcher Stern dies war. So hell musste es wohl einer der nächstgelegenen Sterne sein, also wohl einer des Königreichs oder des Feindes. Oder es war ein anderer Planet dieses Sternensystems. Einer der großen Gasriesen vielleicht.
Seiner Unkenntnis in Astronomie war es auch zu verdanken, dass Miguel nicht begriff, dass auf einer ostwärts rotierenden Welt wie Córdoba nicht nur sein Zentralgestirn sondern auch alle Sterne im Osten aufgingen, dieser Stern jedoch am westlichen Horizont erschienen war.

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